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Dienstag, 2. Februar 2010

Sinn & Gehalt

Wir fühlen uns frei bei der Schönheit, weil die sinnlichen
Triebe mit dem Gesetz der Vernunft harmonieren; wir fühlen
uns frei beim Erhabenen, weil die sinnlichen Triebe
auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluss haben,
weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen
anderen als seinen eigenen Gesetzen stünde. [...]
Ein Mensch, will ich annehmen, soll alle die Tugenden
besitzen, deren Vereinigung den schönen Charakter
ausmacht. Er soll in der Ausübung der Gerechtigkeit,
Wohltätigkeit, Mäßigkeit, Standhaftigkeit und Treue seine
Wollust finden; alle Pflichten, deren Befolgung ihm die
Umstände nahe legen, sollen ihm zum leichten Spiel werden,
und das Glück soll ihm keine Handlung schwermachen,
wozu nur immer sein menschenfreundliches Herz
ihn auffodern mag. Wem wird dieser schöne Einklang der
natürlichen Triebe mit den Vorschriften der Vernunft nicht
entzückend sein, und wer sich enthalten können, einen
solchen Menschen zu lieben? Aber können wir uns wohl,
bei aller Zuneigung zu demselben, versichert halten, dass
er wirklich ein Tugendhafter ist, und dass es überhaupt
eine Tugend gibt? [...]
Wohl ihm also, wenn er gelernt hat, zu ertragen, was er
nicht ändern kann, und preiszugeben mit Würde, was er
nicht retten kann! Fälle können eintreten, wo das Schicksal
alle Außenwerke ersteigt, auf die er seine Sicherheit
gründete, und ihm nichts weiter übrig bleibt, als sich in die
heilige Freiheit der Geister zu flüchten – wo es kein andres
Mittel gibt, den Lebenstrieb zu beruhigen, als es zu
wollen – und kein andres Mittel, der Macht der Natur zu
widerstehen, als ihr zuvorzukommen und durch eine freie
Aufhebung alles sinnlichen Interesses, ehe noch eine
physische Macht es tut, sich moralisch zu entleiben.

Friedrich Schiller, Ueber das Erhabene, . In: Friedrich
Schiller, Sämtliche Werke. Bd. 5: Erzählungen, Theoretische
Schriften. Hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert
G. Göpfert. 8. Aufl. München 1989, hier 796, 798, 805.