Ich befasse mich gerade mit einem Buch von Anthony Trollope, einer der bekannteste Schriftsteller in England aus dem 20. Jahrhundert. Das Buch heißt „An Eye For An Eye“ („Auge um Auge“) und behandelt die Geschichte eines jungen Mannes, der die Ehre hat von einem reichen Grafen adoptiert zu werden, um dessen Erbe zu werden. Nun wohnt diesem jungen Mann jedoch ein starker Drang nach Abenteuer inne und fordert beim Grafen ein Jahr Militärdienst ein, bevor er sich verpflichtet, seiner Rolle als Adeliger gerecht zu werden. Er tritt seinen Dienst in Irland an und es geschieht, was geschehen muss. Er verliebt sich in eine Schönheit, die Katholikin und obendrein ohne Herkunft ist. Trollope entwirft einen Zwiespalt in diesem Mann, dem zwei Versprechen abgekämpft werden. Zum einen seinem zukünftigen Adelstitels alle Ehre zu machen und keinerlei niedrige Verbindungen einzugehen und zum anderen die Ehe mit Kate O´Hara einzugehen und ihr dadurch keine Schande über sie kommen zu lassen.
Fred Neville, der junge Mann, fühlt sich von Kate komplett in den Bann gezogen und kann sich in ihrer Gegenwart nicht vorstellen, sie nicht heiraten zu können. Doch dann kommt es zu einer Wende seiner Sichtweisen, nachdem Kate sich Fred vollkommen hingegeben und sich ihre „Unschuld“ nehmen ließ. Sie beschließt sich in allem Fred Neville zu opfern, ihm immer zu gehorchen und zu umsorgen. Ab da an will Fred nichts mehr, als aus dieser Verbindung raus.
Ist es ein Zufall, dass die Wende seiner Ansichten ausgerechnet kurz nach der völligen Hingabe Kates geschieht? Ich denke nicht. Kate O´Hara bedeutete für Fred Abenteuer, unentdecktes Gebiet. Noch nie hatte jemand zu sehen bekommen, was Fred zu sehen bekam und als er es sah, war es gesehen. Er erscheint wie Columbus, der unbedingt das Ende der Welt sehen wollte und als er Amerika entdeckte, es sich ansah und es sein Eigen nennen konnte, fuhr er nach Hause und fand, dass es dort doch irgendwie schöner war. Wobei man an dieser Stelle anmerken muss, dass er Amerika immerhin viermal! besuchte.
Ich würde also soweit gehen und behaupten, dass Kates Offenbarung Freds Abschluss war. Die Frage die dabei aufkommt ist, hat sich dieses Verhalten geändert? Erscheinen schon bestiegene Berge heute immer noch ebenso interessant, wie solche, die noch keiner erklimmen konnte? Wie viel Anreiz hat eine Jungfrau heute noch?
Mir sind schon die verschiedensten Meinungen untergekommen. Da gibt es die einen, die sich Kerben in den Bettpfosten ritzen, wenn sie jemanden entjungfert haben und oft sind es eben diese, die niemals eine feste Bindung mit einer entjungferten Person eingehen möchten. Andere behaupten, ihnen käme keine Jungfrau ins Bett. Die Erfahrung sei es auf die es ankommt. In christlichen Kreisen wird oft davon gesprochen, dass Sex nur in die Ehe gehört und nirgendwo anders. Dementsprechend wird es auch dort eher schwer sein mit einer verlorenen „Unschuld“ einen Partner zu finden, dem das nicht allzu viel stört.
Natürlich gibt es noch dutzende mehr Meinungen dazu, doch es wäre allzu ermüdend, diese aufzuzählen und auch nicht wirklich relevant, denn ich glaube, dass es nicht darauf ankommt, ob dein Partner dich mehr oder weniger achtet, weil du deine „Unschuld“ noch hast oder eben nicht. Ich glaube es ist wichtig, dass du dich noch achtest. Partner kommen und gehen heutzutage doch sehr schnell, doch das was bleibt bist du. Du musst dich selbst lieben und achten können, mit oder ohne „Unschuld“, bevor es jemand anderes machen kann. Und wenn du dann jemand findest, der dich wahrhaftig liebt, dann wird er alles an dir lieben, unschuldige, wie auch schuldige Seiten.
Nicht umsonst sagt Anthony Trollope Freds Gefühle seien „fast wie echte Liebe“, kurz bevor er Kate entjungfert und beschließt sie zu verlassen. Ob ihn sein Adelstitel und der gute Ruf seines neuen Familiennamens, den Verlust seiner Ehre aufhebt sei dahingestellt.